Historiker Dr. Sascha Priester

„MYTHEN BIETEN RAUM FÜR IDENTITÄT“
NACHGEFRAGT BEIM HISTORIKER DR. SASCHA PRIESTER, MITGLIED IM WISSENSCHAFTLICHEN BEIRAT VON THE HISTORY CHANNEL

 

Zum Begriff „Mythos“ wird im allgemeinen Sprachgebrauch schnell gegriffen. Er ist etwas unklar oder gar rätselhaft. Dagegen legt der Historiker, wie jeder Wissenschaftler, Wert auf Genauigkeit. Hat der Mythos überhaupt Platz in der Geschichtswissenschaft?

Dr. Sascha Priester: Wir verwenden heute „Mythos“ meist sehr unscharf, ohne uns der Komplexität des Begriffs bewusst zu sein. Wir verweisen etwas ins „Reich der Mythen und Legenden“ und verbinden damit irgendeine Form von Märchenwelt. Eine unwahre Realität. Wer Geschichtsforschung betreibt, sollte diesen Fehler vermeiden und das Phänomen „Mythos“ in seinen Facetten reflektieren. Mythos ist alles andere als eine Märchenstunde! Ein Beispiel: Wenn die Römer ihre Zeitrechnung mit dem ganz konkreten Jahr 753 vor Christus sowie mit dem Mythos von Romulus und Remus verknüpfen, dann hat das eine eigene Qualität. Das ist eine Form antiker Realität, in der unsere vermeintlich so sauber voneinander getrennten Schubladenbezeichnungen „Geschichte“ und „Mythos“ nicht greifen. Die Gründungsmythen Roms, die sogar bis zu den Erzählungen rund um den Trojanischen Krieg zurückreichen, wurden mit ihren Figuren, Werten und Normen als ein entscheidender Teil der Geschichte Roms verstanden und vermittelt. Dies ging so weit, dass in der antiken Weltmetropole sogar die sichtbaren Stätten dieser Erzählungen zu sehen waren: vom „Lupercal“, der Höhle der Wölfin, die Romulus und Remus gesäugt haben soll, bis zur „Hütte des Romulus“ auf dem Palatin Hügel. Szenenwechsel: Wenn ein Eroberer wie Alexander des Großen in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts vor Christus wie ein wiedergeborener Achill als übermenschliche Gestalt auftritt und sogar als Sohn des Gottes Zeus verherrlicht wird, mag mancher heute diese Form von Selbstinszenierung und Beweihräucherung als tumbe Propaganda abtun. Das ändert jedoch nichts daran, dass hier Mythos und Historie miteinander sehr lebendig und komplex verwoben sind mit einer Fülle von politischen Botschaften und Idealen, die Alexander in seiner Person bewusst vermittelt sehen wollte.

Mythen sind Erzählungen, die als Medium dienen: Sie bieten Raum für Identität, liefern übergreifende Erklärungen oder geben Orientierung, beispielsweise religiös ethischer Natur. Mythen, alte wie neue, sind der Spiegel von Welterfahrung. Ein Spiegel, den wir immer aus der jeweiligen Zeit heraus verstehen sollten und zugleich in der Rückschau bewerten, oft mit großem zeitlichen Abstand. Diesem Dilemma wie auch dieser Vielschichtigkeit müssen wir uns stellen, um den Mythos im jeweiligen Fall zu verstehen, zu deuten und zu entschlüsseln.

 

Als Außenstehender stellt man sich die Arbeit als Historiker leicht in alten Bibliotheken, umgeben von noch älteren Schriftstücken vor. Das Sprichwort „Geschichte wird von Siegern geschrieben“ hingegen zweifelt den Wahrheitswert solcher Quellen kategorisch an. Wie skeptisch sollte man gegenüber historischen Texten sein?

Dr. Sascha Priester: Historische Texte sind für den Historiker wichtige, oft entscheidende Quellen. Denn es handelt sich um Zeugnisse, die einen vergleichsweise direkten, unmittelbarauthentischen Zugang zur Geschichte erlauben. Sie sind nicht „richtig“ oder „falsch“; stattdessen stehen sie für eine(n) Autor/-in, für einen Zweck, der mit dem Text erfüllt wird, für eine bestimmte Zuhörerschaft, für eine Gesellschaft und letztlich für die Zeit, in die dieser Text eingebunden ist. Als Medium liefert er uns eine Perspektive, einen Standpunkt, eine Momentaufnahme – die wir kritisch überprüfen und auswerten sollten. Ich stehe also historischen Texten alles andere als skeptisch gegenüber, sondern ganz im Gegenteil sehr freudig. Denn sie gehören zu meinem Arbeitsmaterial. Und sie sind ein Glücksfall. Viele Kulturen, von denen wir keine historischen Texte besitzen, sind für uns aufgrund dieses Mangels an Überlieferung in vielen Fragen immer noch eine black box.

 

Die Doku-Reihe „History’s Greatest Mysteries“ kommt auch auf die Ermordung des US-Präsidenten Lincoln zu sprechen. Um dessen Tod ranken sich viele Legenden, eine davon die, ob der Täter John Wilkes Booth seinen eigenen Tod vortäuschte, um seiner Bestrafung zu entgehen. Kann es neue Erkenntnisse zutage fördern, auch einem solchen (weit hergeholten) Mythos nachzugehen?

Dr. Sascha Priester: Aus meiner Sicht handelt es sich hierbei weniger um einen klassischen Mythos als um eine Verschwörungsgeschichte. Diese besagt, dass Booth nach seinem Attentat auf Präsident Abraham Lincoln und der anschließenden 12-tägigen Flucht nicht am 26. April 1865 auf einer Tabakfarm von einem Suchtrupp gestellt und dabei ums Leben gekommen sei. Jemand anderer sei an seiner Statt getötet worden. Als professioneller Schauspieler und Meister der Verwandlung habe Booth inkognito weitergelebt; man habe ihn an verschiedenen Orten „gesichtet“. Je nach der jeweiligen Version habe er hier oder dort unter einem falschen, neuen Namen gelebt. Das Verdienst der TV-Doku ist es hier, dem heutigen, mittlerweile fast unüberschaubaren Netz von Booth-Theorien wie auch angeblichen leiblichen Booth-Nachfahren in den USA nachzugehen – und dabei auch mit Hilfe von DNA-Tests nachzuweisen, dass es gegenwärtig keine wissenschaftlichen Beweise für Nachkommen von Booth nach den Ereignissen vom April 1865 gibt.

Die Heroisierung, die in mancher Legende rund um Booths angebliches Verschwinden mitklingt, erklärt für mich den möglichen Ursprung dieser Geschichten: als Konföderierten-Legende, die aus der damaligen Zeit verstanden werden muss. Wenn sich, wie nach der Kapitulation des Südens, nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, Menschen ohnmächtig, ohne Orientierung und Zukunftsperspektive fühlen, schlägt auch die Stunde von Verschwörungsgeschichten. Derartige Stories können denen, die an sie glauben und weiterverbreiten, ein Gefühl von Kontrolle, Sicherheit, Zusammengehörigkeit und Herrschaftswissen verleihen. Im Fall Booth gibt es, wie oft in vergleichbaren Fällen, einen vermeintlich wahren Kern: Man könne ja nicht mehr genau sagen, ob der Erschossene wirklich der Lincoln-Attentäter gewesen sei. Er habe anders ausgesehen. Sagt jemand. Was niemand damals wie heute mehr wirklich überprüfen kann. Was wiederum Verschwörungsgeschichten befeuert, die man aktuell nicht faktisch weiterverfolgen und auflösen kann – worin deren Anhänger dann einen weiteren vermeintlichen Beweis für ihre angebliche Richtigkeit sehen. Also: To be continued...

 

Man könnte sich die Geschichtswissenschaft als die Erforschung zu vergangenen Ereignissen vorstellen. Nehmen wir beispielsweise das Ereignis der D.-B.-Cooper-Entführung 1971: Was braucht es, dass aus einem bloßen Vorkommnis eine historische Begebenheit wird?

Dr. Sascha Priester: Vieles, was heute passiert, ist morgen bereits vergessene Geschichte. Unter wirklichen Ereignissen verstehe ich dagegen historische Wegmarken – also für viele Menschen wichtige Geschehnisse, die den Zeitpfeil strukturieren. Dass sich ein Vorkommnis in ein historisches Ereignis verwandelt, dazu müssen mehrere Faktoren gegeben sein: Es muss gesehen und beobachtet werden – und das Beobachtete muss wiederum anderen in irgendeiner Form zugänglich sein. Wenn niemand von dem Vorkommnis Notiz nimmt, wenn es nicht weiterkommuniziert wird, wenn es niemanden interessiert, ist zwar etwas geschehen – aber es ist kein Ereignis im eigentlichen Sinn. Dabei gibt es eine Fülle von begleitenden Phänomenen: Die D.B.-CooperEntführung 1971 ist beispielsweise ein mysteriöser Kriminalfall, der in den USA sehr berühmt, bei uns in Deutschland hingegen deutlich weniger bekannt ist. Neben der Unterschiedlichkeit in der Wahrnehmung von Ereignissen ist aber auch eine grundsätzliche Trennung wichtig: zwischen dem, was wirklich bei dem Ereignis geschehen ist, und dem, was man mit diesem Ereignis als kulturelle Bedeutung verbindet.

 

„History’s Greatest Mysteries“ sucht nach dem Zusammenhang zwischen Mythos und Fakten. Dabei verstand sich der Begriff „Mythos“ einst ohnehin als etwas Allgemeingültiges und damit Wahres. Wie kam dieser Bruch zustande?

Dr. Sascha Priester: In den Fällen, die in der Doku-Reihe „History’s Greatest Mysteries“ aufgerollt werden, geht es um historische Ereignisse. Ereignisse, die, als sie eintraten, viele Menschen beschäftigten. Ereignisse, die teils heute noch tief bewegen. Ereignisse, die bewegen. Ereignisse, die – auch wenn wir glauben, schon viel darüber zu wissen – noch offene Fragen haben. Und diese Fragen werden jetzt in der Serie im Licht neuer Erkenntnisse und Einschätzungen gestellt. Die Antworten rücken diese Ereignisse und unser Wissen darüber in ein neues Licht. Wir sprechen hier von Ereignissen, die bereits in der Vergangenheit etwas Mythisches hatten zu unserem kollektiven Gedächtnis. Auch wenn das Wrack seit über 100 Jahren auf dem Grund des Atlantiks in 3800 Meter Tiefe liegt, in Teile zerbrochen, die Schiffshülle von Bakterien zerfressen ist, Rost und Meeresströmung ausgesetzt – das Bild des sinkenden Schiffes hat sich in unseren Köpfen festgesetzt.

 

Der Fall des „Titanic“-Untergangs entfacht immer noch Schuldfrage-Debatten. Mit bislang unbekannten Notizen des im Fall damals angesetzten Ermittlers Lord Mersey will „History’s Greatest Mysteries“ das Thema aus einer neuen Perspektive betrachten. Die Untersuchung scheint also bis heute zumindest kulturell nicht abgeschlossen. Steckt dieselbe Treibkraft auch hinter der Arbeit eines Historikers?

Dr. Sascha Priester: Natürlich reizt mich als Historiker die Frage, mehr über den Untergang der RMS Titanic zu erfahren. Ein Ereignis, das mich in seiner Vermischung von historischem Geschehen und mythischer Rezeption immer schon berührt hat, spätestens seitdem ich in den 1990er-Jahren die großen Titanic-Ausstellungen in Memphis und Hamburg besucht habe. Wir sollten nicht vergessen: Wir sprechen über eine Katastrophe, die in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 über 1500 Passagiere das Leben kostete. Und auch über 100 Jahre später wollen wir wissen: Wie konnte es wirklich zu dieser Katastrophe kommen? Das Verdienst der Dokumentation „History‘s Greatest Mysteries“ ist es hier, den Blick auf wirklich Neues zu richten und auf die Person des damaligen Chefermittlers Lord Mersey. Es ist eine Sensation, dass nun seine privaten Aufzeichnungen öffentlich gemacht werden, die er zeitgleich zu den Anhörungen und Ermittlungen angefertigt hatte. Während die abschließende Untersuchung zu dem Schluss kam, dass die „Titanic“ zwar mit sehr hoher Geschwindigkeit fuhr, aber Captain Smith kein ausdrücklicher Vorwurf gemacht wurde, vermitteln Lord Merseys Notizen ein anderes Bild. Sie lassen seine eigenen Fragen, ja seine Besorgnis durchklingen, warum die „Titanic“ mit nahezu Höchstgeschwindigkeit unterwegs war. Und dies trotz der 21 EisWarnungen, die das Schiff während seiner Fahrt mittels der damals neuen Marconi-Funktechnik erreichte, allein sieben am letzten Tag. Lord Mersey machte sich Skizzen zu den unterschiedlichen Formen des treibenden Eises, das der „Titanic“ gemeldet wurde: vom flachen Eisfeld über höhere Erhebungen an der Wasseroberfläche bis zu Eisbergen. Er unterstrich an einer Stelle seine eigene Bemerkung, dass trotz all dieser Warnungen „keine Drosselung der Geschwindigkeit“ stattfand. Stattdessen fuhr das Schiff mit 21 Knoten weiter, auch mitten in der Nacht, bis zum Zeitpunkt der Kollision trotz des Wissens von „Eisbergen in unmittelbarer Nähe und der Wahrscheinlichkeit, auf diese zu treffen“, wie Lord Mersey kommentierte. Die Doku stellt die sich aufdrängende Frage in den Raum: Warum gab Captain Smith keine Order, langsamer zu fahren? Lag es am Druck, den J. Bruce Ismay an Bord auf ihn ausgeübt habe, der Vertreter der „White Star Line“, dem Eigentümer des Schiffs, um pünktlich in New York City einzutreffen? „History’s Greatest Mysteries“ rekonstruiert eine bezeichnende Szene, als Ismay eine Eiswarnung in seine Tasche gesteckt habe, die die „Titanic“ von einem anderen Schiff, der „Baltic“, erhalten habe. Wollte man auf der Brücke nicht für Unruhe und Diskussionen sorgen? Lord Mersey unterstrich jedenfalls in seinen Notizen den Namen „Ismay“ und kommentierte: „die Botschaft der Baltic, die Ismay eine Weile an sich genommen hatte“. Dazu kommt die Tatsache, dass das Schiff über zu wenige Rettungsboote verfügte. Auch wenn es mehr Rettungsboote gab als offiziell vorgeschrieben, führt die Doku vor Augen, dass bei voller Auslastung des Schiffes nur maximal die Hälfte der rund 2240 Passagiere dort Platz gefunden hätten. Aus den Mersey-Notizen geht nun der ebenfalls skandalöse Umstand hervor, dass die Verantwortlichen an Bord zwar erfahrene Seeleute waren, aber offenbar viel zu wenig darin trainiert, das neue Kransystem zu bedienen, das auf der „Titanic“ dazu dienen sollte, Rettungsboote zu Wasser zu lassen. Und noch mehr: Captain Smith cancelte eine während der Fahrt vorgesehene RettungsbootÜbung. Lord Mersey, selbst in nautischen Belangen erfahren, kommentierte: „Das (ist) unüblich“. Die Notizbücher bieten zudem eine neue Perspektive auf die dramatischen Minuten und Stunden, die zwischen der Kollision mit dem Eisberg nach heutigem Wissensstand gegen 23:40 Uhr und dem Untergang des Schiffes gegen 02:20 Uhr morgens lagen. Im Gegensatz zu dem bisher gewohnten Bild, dass die „Titanic“ nach der Kollision mit dem Eisberg die Schotten herunterließ und komplett ihre Fahrt stoppte, sprechen die Aufzeichnungen von Lord Mersey zu Zeugenaussagen für einen anderen Ablauf: Wasserdichte Schotten, die verhinderten, dass das eindringende Wasser weitere Bereiche des Schiffs überflutete, wurden demnach manuell wieder geöffnet, um Schläuche und Pumpen von A nach B zu bringen. Erschütternd wirkt hier heute Lord Merseys kurzes Zeugnis, dass danach diese Türen alle offen gelassen worden seien.

Und die nach der Kollision eingeleitete Schadensaufnahme gestaltete sich offenbar so, dass zunächst kein echter Schaden festgestellt wurde – so dass die „Titanic“ nach dem Stopp auf Smiths Order hin wieder Fahrt aufnahm. Für 20 Minuten fuhr die „Titanic“ weiter, jetzt allerdings mit halber Geschwindigkeit. Weil man tatsächlich an keinen ernsthaften Schaden glaubte? Um die Passagiere zu beruhigen? Diese Entscheidung führte laut der Experten, die in der TV-Doku zu Wort kommen, dazu, dass das Schiff immer schneller mit Wasser volllief. Wertvolle Zeit verstrich, in denen man die Evakuierungsmaßnahmen hätte einleiten müssen. 22 Minuten nach der Kollision meldete dann der Schiffskonstrukteur Thomas Andrews auf der Brücke das Ergebnis seiner Untersuchung, dass die „Titanic“ nur noch zwei Stunden habe...

Erst 25 Minuten nach der Kollision wurde endlich der Befehl erteilt, die Rettungsboote klar zu machen. Rettungsboote, die im Chaos nicht voll gefüllt wurden. Und in einem Rettungsboot waren von 68 Insassen 61 Männer. Frauen und Kinder zuerst? Am Schluss steht neben den vielen Ursachen für die Katastrophe noch eine weitere bedrückende Tatsache für sich: Viele derjenigen, die im kalten Wasser den Untergang des Schiffes zunächst überlebten und in den Fluten schwammen, hätten gerettet werden können. Doch nur zwei der 20 Rettungsboote kamen ihnen zu Hilfe. So konnten nur 40 Personen aus dem Wasser gezogen und gerettet werden. Während hier die Mitmenschlichkeit offenbar oft auf der Strecke blieb, nahm ein anderer Mann alle Risiken auf sich: Arthur Rostron. Als Captain der „Carpat hia“ steuerte er sein Schiff mit Crew und Passagieren in genau dasselbe Eisfeld, in dem die angeblich unsinkbare „Titanic“ ihren Notruf abgesetzt hatte, um zu Hilfe zu eilen. Mit seinem Einsatz konnte Captain Rostron die Rettungsboote der „Titanic“ so schnell wie möglich erreichen und die Überlebenden aufnehmen und erstversorgen.

 

Mit Geschichten wie der „Titanic“ geht bis heute ein Interesse einher, das sich in zahlreichen Büchern, Filmen, Fachartikeln etc. niederschlägt. Ist es dieses Interesse, das aus dem Ereignis den Mythos macht?

Dr. Sascha Priester: Literatur, bildende Kunst, Hollywood oder Dokumentationen halten ein historisches Ereignis nicht nur fest, sondern erzählen es vor allem auch weiter. Beim Fallbeispiel „Titanic“ hält dieser Prozess und dessen Verankerung in unseren Köpfen so auch die „Titanic“ selbst auf bemerkenswerte Weise am Leben. Mit einer Fülle von Interpretationsmöglichkeiten, die das Schiff und ihr Untergang als Projektionsfläche bieten. Eine Verkörperung des menschlichen Drangs, etwas technisch Perfektes, Unsinkbares, Unzerstörbares, ja Ewiges zu schaffen. Ein Symbol dafür, wie genau diese menschliche Hybris des modernen Prometheus – wie so oft zuvor oder auch später in der Menschheitsgeschichte – auf monströs tragische Weise scheitert: die allmächtige „Titanic“, verschlungen vom Meer, verschluckt von der doch so viel mächtigeren Natur – ein Menetekel. Eine Metapher für den Untergang, für die Unerfüllbarkeit eines Menschheitstraums. Aber eben auch die Geschichte, wie die zerstörte, nur vermeintlich physisch unzerstörbare „Titanic“ der ganz eigenen Logik ihres Mythos folgend am Ende eine Form von dauerhafter Erinnerung und damit metaphysischer Unsterblichkeit erlangt. So wie der US-Nobelpreisträger Bob Dylan die „Titanic“ in seinem musikalisch-poetischen Werk einsetzt, wenn er das Schiff in seinem surrealistischen Song „Desolation Row“ aus dem Jahr 1965 zeichnet: Die „Titanic“ fährt im Morgengrauen. Auf der Kommandobrücke befiehlt jedoch kein Captain Smith, stattdessen streiten sich hier die Dichter Ezra Pound und T.S. Eliot, während Calypso-Sänger darüber lachen, Fischer Blumen halten und Meerjungfrauen im Chor singen. Und während man sich an Deck darüber zankt, wer auf welcher politischen Seite steht und wann man wo endlich Position bezieht, wissen wir eigentlich die Antwort: Welche Rolle spielt das alles, wenn man gerade auf der Titanic dem Untergang entgegenfährt? Bob Dylan kehrte 2012 zu diesem Thema zurück: in seinem fast 14 Minuten dauernden Song „Tempest“, der den Untergang des Schiffes in Verse und folkige Musik fasst. Die „Titanic“ ist jetzt, wie dies Autor Andrew Muir in seinen Betrachtungen zu „Dylan & Shakespeare“ (2019) formulierte, in einem metaphorischen Sturm unterwegs: Die sturmgebeutelte Menschheit – egal, ob reich oder arm – ist der Gnade einer höheren, unergründlichen Macht überantwortet. Damit steht meiner Meinung nach die Geschichte der „Titanic“ beim Mythenerzähler Dylan nicht mehr nur für den Abschied von Vergangenheit, wie dies fast fünf Jahrzehnte zuvor der Fall war. Das Schiff ist nun die Bühne, auf der ein finaler Showdown stattfindet. Das göttliche Weltengericht, dem niemand entrinnen kann, am Ende der Zeit. Der im wahrsten Wortsinn ultimative Mythos auf unserer Suche nach Erkenntnis und Gewissheit.