Zurück

Am 26. Mai 1977 erklomm der 27-jährige Spielzeughersteller George Willig aus Queens den 415 Meter hohen und 110-stöckigen Südturm des World Trade Centers in New York. Zur damaligen Zeit war es das dritthöchste Gebäude der Welt.

Diese unglaubliche Meisterleistung hatte Willig ein Jahr lang sorgfältig geplant. Er machte vier nächtliche Ausflüge zu dem Turm, um seine selbstgemachte Kletterausrüstung zu testen. Dabei handelte es sich um eine Variante eines normalen Kletterhilfsmittels, genannt Steigklemme. Die erlaubte es ihm, an den Fensterwaschschienen des Gebäudes hochzuklettern.

Während eines Tests erwischte ihn ein Sicherheitsmann, als er einige Meter an der Seite des Gebäudes hochgeklettert war. Willig behauptete, ein Architekturstudent zu sein und umging so den Ärger.

Als der große Tag gekommen war, nahm sich Willig bei der Arbeit frei. Er aß Steak und Eier zum Frühstück und machte sich mit seinem Bruder und einem Freund auf den Weg  zum World Trade Center. Er begann seinen Aufstieg um 6:30 Uhr. Er trug einen Parka, um seine Kletterausrüstung zu verbergen. Den Parka ließ er erst fallen, als er fast acht Meter hoch war.

Die Polizei wurde auf ihn aufmerksam. Als sie ihm zuriefen, dass er herunterkommen soll, war seine berühmte Antwort: „Ich komme nicht runter. Es gibt nur einen Weg und das ist aufwärts.“  Sein Bruder und sein Freund wurden sofort als Komplizen verhaftet und untersucht. Endlosen Papierkram, Fingerabdrücke und Befragungen zu Willigs Zurechnungsfähigkeit mussten sie über sich ergehen lassen. Als sie darauf beharrten, dass Willig keine politische oder kommerzielle Motivation hatte, war die Polizei verwirrt.

Als Willig den 25. Stock erreicht hatte, hatten sich viele Schaulustige und Medienvertreter eingefunden. Beim 60. Stock kam er an zwei Polizisten auf einem Baugerüst vorbei. Um eine erzwungene Rettung zu vermeiden, führte Willig ein Klettermanöver mit dem Namen „Pendulum“ durch und schwang sich von dem Gerüst weg. Als er sich abstieß, verdüsterte ein Schatten das Gebäude und führte zu einem kollektiven Luftanhalten bei den Zuschauern, die dachten, dass er ausgerutscht war und fallen würde.

Nachdem die Polizei ihm versichert hatte, nur da zu sein für den Fall, dass er müde würde, kehrte er zu seinem ursprünglichen Weg zurück. Er quatschte kurz mit den Polizisten und setzte dann seinen Aufstieg fort.

Gegen 10 Uhr, nach dreieinhalb Stunden senkrechten Kletterns, stemmte sich Willig über den Sims des Gebäudes. Er wurde von begeisterten Polizisten empfangen, die ihm gratulierten, ihn nach Fotos fragten und ihn seinen Namen auf das Gebäude schreiben ließen – bevor sie ihm, weil das ihre Pflicht war, Handschellen verpassten.

Später ließen die Behörden von New York verlauten, dass sie Willig auf 250.000 Dollar verklagen würden. Wegen der großen Medienaufmerksamkeit wurde aus ihm aber eine Art Volksheld. Er wurde von „The Daily News“ dem Namen „Human Fly“ (Menschliche Fliege) betitelt.

Am nächsten Tag traf Willig sich mit dem Bürgermeister. Der entschied, dass Willig nur 1,10 Dollar – ein Penny für jedes Stockwerk – zahlen musste. Als Gegenleistung sollte Willig keine Details über seine Kletterausrüstung veröffentlichen.

Vielleicht hätte Willig aber stattdessen bezahlt werden sollen: Weil er sich im Vorfeld gedacht hatte, dass etwas repariert werden muss, hatte er einen kleinen Hammer mitgenommen und Unregelmäßigkeiten an den Fensterwaschschienen ausgebessert, während er kletterte.

Bild: Credit:  NY Daily News via Getty Images